
Ein Park der Superlative
Hamburg beherbergt mit dem Friedhof Ohlsdorf einen Ort, der weltweit einzigartig ist. Auf fast 390 Hektar erstreckt sich ein Park, der seit seiner Eröffnung im Jahr 1877 nicht nur als Begräbnisstätte, sondern auch als Naherholungsgebiet und Kulturdenkmal dient. Mit mehr als 200.000 Grabstätten, 12 Kapellen, unzähligen Denkmälern und einem dichten Netz aus Alleen, Wasserläufen und Teichen bildet Ohlsdorf das Herzstück der Hamburger Sepulkralkultur. Doch dieser Parkfriedhof, der für Generationen ein fester Bestandteil des städtischen Lebens war, steht vor einer tiefgreifenden Transformation.
Rückläufige Bestattungen, wachsende Flächen
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt eine klare Tendenz: Klassische Erdbestattungen gehen zurück, während Urnenbeisetzungen deutlich zunehmen. Die Folge: Weniger Fläche wird benötigt, große Grabfelder bleiben ungenutzt oder verlieren an Bedeutung. Gleichzeitig bindet die Pflege der riesigen Anlage erhebliche finanzielle Mittel. Die Hamburger Friedhofsgesellschaft sieht sich daher mit der Frage konfrontiert, wie ein Areal dieser Dimension künftig bewirtschaftet und zugleich den Bedürfnissen der Stadt angepasst werden kann.
Ohlsdorf 2050 – Ein Friedhof als Parklandschaft
Die Antwort darauf trägt den Titel „Ohlsdorf 2050“. Das langfristige Entwicklungskonzept sieht vor, den Friedhof stärker in eine Doppelrolle zu führen: Einerseits bleibt er eine bedeutende Begräbnisstätte, andererseits soll er als Parklandschaft für die Stadtgesellschaft geöffnet und aufgewertet werden.
Konkret bedeutet das: Etwa 120 Hektar werden weiterhin intensiv für Bestattungen genutzt, rund 100 Hektar dagegen in weitläufige Park- und Erholungsflächen überführt. Diese Flächen sollen ökologisch aufgewertet, mit Biotopen, extensiv gepflegten Wiesen und neuen Sichtachsen versehen werden. Ziel ist ein Ort, der zugleich der stillen Trauer und dem öffentlichen Leben dient – ein Raum der Erinnerung, aber auch des Durchatmens.
Kosten und Umsetzung
Die geplante Umgestaltung ist ein Jahrhundertprojekt. Schätzungen gehen von Investitionen in Höhe von bis zu 100 Millionen Euro aus, verteilt auf mehrere Jahrzehnte. Erste Maßnahmen sind bereits sichtbar: Wegeführungen werden angepasst, neue Pflanzungen setzen Akzente, und bestimmte Flächen werden schrittweise aus der aktiven Belegung herausgenommen. Die Stadt betont, dass der Prozess behutsam verlaufen soll, um den Charakter des Friedhofs nicht zu gefährden.
Ein Ort unter Denkmalschutz
Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Denkmalschutz. Viele Grabstätten und Kapellen stehen unter besonderem Schutz und prägen das historische Gesicht des Friedhofs. Dazu zählen die monumentalen Mausoleen, die Ehrenfelder für Kriegsopfer und die Jugendstilkapellen. Jede Veränderung muss sich mit diesen kulturhistorischen Schätzen in Einklang bringen. Ohlsdorf ist damit nicht nur eine Begräbnisstätte, sondern auch ein lebendiges Museum Hamburger Stadtgeschichte.
Ohlsdorf im internationalen Vergleich
Ein Blick über die Grenzen zeigt: Auch andere europäische Großstädte stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Der Pariser Friedhof Père Lachaise, der Wiener Zentralfriedhof oder der Highgate Cemetery in London sind nicht nur Orte der Bestattung, sondern längst auch touristische Anziehungspunkte und grüne Inseln in der Metropole. Hamburgs Konzept reiht sich in diese Entwicklung ein – mit dem Unterschied, dass Ohlsdorf in seiner Größe weit über die bekannten europäischen Beispiele hinausgeht.
Ökologische Bedeutung
In Zeiten des Klimawandels kommt Ohlsdorf eine zusätzliche Rolle zu: Als grüne Lunge im Norden Hamburgs trägt der Parkfriedhof zur Kühlung des Stadtklimas bei, speichert CO₂ und bietet zahlreichen Tier- und Pflanzenarten Lebensraum. Biber, Eisvögel und Fledermäuse finden hier Rückzugsorte, die im verdichteten Stadtgefüge selten geworden sind. Die geplante ökologische Aufwertung soll diesen Wert noch steigern.
Wandel der Trauerkultur
Die Veränderungen sind jedoch nicht allein ökonomisch oder ökologisch motiviert. Sie spiegeln auch einen tiefgreifenden Wandel der Trauerkultur wider. Viele Menschen wünschen sich heute alternative Bestattungsformen: naturnahe Urnengräber im Wald, anonyme Grabfelder oder gemeinschaftliche Erinnerungsstätten. Ohlsdorf reagiert darauf mit innovativen Angeboten – darunter der Ohlsdorfer Ruhewald oder thematisch gestaltete Gärten.
Ein Tabubruch: Mensch und Tier gemeinsam
Besondere Aufmerksamkeit erregt das Projekt „Gemeinschaftsgarten für Mensch und Tier“. In einem neu geschaffenen Bereich sollen künftig Menschen gemeinsam mit ihren Haustieren bestattet werden können. Obstbäume, Blumenfelder und ein parkähnliches Ambiente sollen diesen Ort prägen.
Das Vorhaben ist ein Novum in Deutschland und stößt auf geteilte Reaktionen. Befürworter sehen darin einen zeitgemäßen Ausdruck der engen Bindung zwischen Mensch und Tier. Für viele Menschen sind Hunde oder Katzen Familienmitglieder, deren Tod ebenso betrauert wird wie der eines Angehörigen. Kritiker hingegen warnen vor einer Verwischung der symbolischen Trennung zwischen Mensch und Tier, die in der traditionellen Friedhofskultur fest verankert ist.
Rechtliche Rahmenbedingungen
Rechtlich bewegt sich das Vorhaben auf neuem Terrain. Das Hamburger Bestattungsgesetz erlaubt die Beisetzung von Tierurnen in bestimmten Gemeinschaftsgräbern, sofern hygienische und bodenkundliche Voraussetzungen erfüllt sind. Die Umsetzung erfordert jedoch präzise Regelungen: Welche Tierarten dürfen beigesetzt werden? Wie wird die Einhaltung von Abständen und Bodenauflagen kontrolliert? Und wie lässt sich sicherstellen, dass die Würde des Ortes gewahrt bleibt?
Tierfriedhöfe in Hamburg
Unabhängig von Ohlsdorf existieren in Hamburg bereits mehrere Tierfriedhöfe. Sie bieten Grabstellen für Hunde, Katzen und Kleintiere und werden von privaten Trägern betrieben. Mit dem geplanten Gemeinschaftsgarten in Ohlsdorf würde erstmals eine direkte Verbindung zwischen Human- und Tierbestattung in einem städtischen Friedhof geschaffen – ein Schritt, der Hamburg bundesweit zum Vorreiter machen könnte.
Kritik und Kontroversen
Die Pläne bleiben nicht ohne Widerspruch. Vertreter der Kirchen äußern Vorbehalte gegenüber Mensch-Tier-Bestattungen und mahnen, die spirituelle Dimension des Friedhofs nicht zu verwässern. Auch in der Politik gibt es skeptische Stimmen, die vor zu starken Umwidmungen und einer „Parkisierung“ des Friedhofs warnen. Befürchtet wird, dass die eigentliche Bestattungsfunktion in den Hintergrund geraten könnte.
Gleichzeitig gibt es Kritik an den hohen Kosten des Projekts. Angesichts knapper öffentlicher Mittel wird hinterfragt, ob Millioneninvestitionen in einen Friedhof gerechtfertigt sind. Die Stadt verweist auf die langfristige Bedeutung Ohlsdorfs als Erholungsraum, Denkmalstätte und ökologische Ressource.
Perspektiven für die Zukunft
Der Wandel des Friedhofs Ohlsdorf zeigt, wie stark sich die Rolle von Begräbnisstätten im 21. Jahrhundert verändert. Der Friedhof wird nicht mehr ausschließlich als Ort des Todes wahrgenommen, sondern zunehmend als multifunktionaler Raum, in dem Erinnerung, Natur und städtisches Leben zusammenfinden.
Für Hamburg bedeutet dies eine Gratwanderung: Die Würde der Verstorbenen muss gewahrt bleiben, gleichzeitig soll die Stadtgesellschaft von einem einzigartigen Park profitieren. Wenn der Spagat gelingt, könnte Ohlsdorf Modellcharakter für andere Großstädte entwickeln – als Friedhof der Zukunft, der sich seiner Geschichte bewusst ist und zugleich den Bedürfnissen einer modernen Metropole gerecht wird.
